Inge Scholl – eine demokratische Patriotin

Giselher Technau

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Und weiter: „Die Freiheit ist kein Zustand. Sie ist eine immerfort aufzubauende Leistung.“ Inge Aicher-Scholl nahm mit ihren Forderungen, die in dem von Martin Walser herausgegebenen Sammelband „Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?“ erschienen waren, Gedanken der 68er-Generation vorweg, die allerdings vergleichsweise radikalere Vorstellungen über eine Umgestaltung der Bundesrepublik Deutschland vertreten sollte.

Die Rolle der unbequemen Mahnerin hat Inge Aicher- Scholl bei einem Großteil der Bevölkerung nicht gerade beliebt gemacht. Es hat erhebliches Aufsehen erregt, als sie sich im September 1985 gemeinsam mit ihrem Schwager, dem pensionierten Richter Fritz Hartnagel, gegen die „Raketen-Nachrüstung“ der NATO engagierte und mehrmals an Blockaden vor dem amerikanischen Militärdepot in Mutlangen teilnahm. Deswegen angeklagt, gab sie als Begründung vor Gericht an, dass die Nachrüstung mit Atomraketen die Gefahr eines bewaffneten Konflikts zwischen den Blöcken erhöhen würde, wobei die ersten Opfer die Menschen der beiden deutschen Staaten, der BRD und der DDR, sein würden. „Mein Motiv ist in jedem Fall Menschlichkeit, die Rettung des Menschen vor dem Atomkrieg. Wenn der Friede gefährdet ist, gibt es eine Art gesellschaftlicher Notwehr.“ Und Inge Aicher-Scholl zitierte aus einem Flugblatt ihrer Geschwister die Worte: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt! Entscheidet euch, ehe es zu spät ist!“ Allerdings betonte sie, dass ein Vergleich mit damals abwegig sei: „Wir leben in einer Demokratie, nicht in einer Diktatur!“

Inge Aicher-Scholl (sitzend Mitte) mit ihrem Schwager Fritz Hartnagel (sitzend hinten), 1985 bei einer Blockade in Mutlangen gegen die Atomraketen
Inge Aicher-Scholl (sitzend Mitte) mit ihrem Schwager Fritz Hartnagel (sitzend hinten), 1985 bei einer Blockade in Mutlangen gegen die Atomraketen

Inge Aicher-Scholl wurde wegen Nötigung der amerikanischen Truppen 1988 zu einer Geldstrafe verurteilt. Aber die zunächst unterschätzte Friedensbewegung der 80er Jahre, der sie zuzurechnen ist, sollte mit ihren Forderungen nach „Menschlichkeit“ schon zwei Jahre später Recht bekommen: Das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Freund-Feind-Denken des Kalten Krieges war überholt. Gegen den Zwang und die Diktatur der sowjetisch beherrschten Gebiete erhoben sich die Bürger in einer „Art gesellschaftlicher Notwehr“ und setzten demokratische Regierungen in vielen europäischen Staaten durch. Die DDR musste ihre Grenzen öffnen; ihre Bürger verlangten mit großer Mehrheit den Anschluss an die Bundesrepublik Deutschland, der am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. – Die letzten Worte von Hans Scholl: „Es lebe die Freiheit!“, waren fast 50 Jahre später in die Tat umgesetzt worden.

Inge Aicher-Scholl starb am 4. September 1998 mit 81 Jahren an den Folgen einer schweren Krankheit. In Crailsheim selbst ist sie seit dem Weggang ihrer Familie anfangs 1920 aus Ingersheim-Altenmünster nur noch einmal gewesen: im Mai 1992 anlässlich einer Ausstellung im Rathaussaal über die „Weiße Rose“, die sie mit einem Vortrag eröffnete. Am gleichen Ort hatte ihr Vater, Robert Scholl, auf Einladung des Kreisjugendrings bereits am 20. Juli 1964 einen Bericht über den Widerstand und den Opfertod seiner Kinder, Hans und Sophie, abgegeben.

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