Inge Scholl – eine demokratische Patriotin
Giselher Technau
Inge Scholl wurde am 18. August 1917 als ältestes Kind des Schultheißen Robert Scholl und seiner Ehefrau Magdalene in Ingersheim geboren. Nach dem Abschluss der Mädchenoberschule in Ulm erlernte sie den Beruf der Büroassistentin in der Steuer- und Wirtschaftsprüfungskanzlei ihres Vaters – „kein Traumberuf“, wie sie später selbst erklärte. Hierin unterschied sie sich von ihrer jüngeren Schwester Sophie, die an der Universität München ihre Wunschfächer Philosophie und Biologie studieren durfte. Als Robert Scholl wegen eines Gefängnisaufenthaltes im September und Oktober 1942 sein Büro in Ulm nicht leiten konnte, vertrat ihn während seiner Abwesenheit Eugen Grimminger aus Stuttgart. Dabei hatte dieser sicher ausführliche Gespräche mit Inge Scholl – die er als Kleinkind schon in Ingersheim gesehen hatte –, was wiederum Hans Scholl den Entschluss erleichtert haben dürfte, mit Eugen Grimminger Kontakt aufzunehmen, um ihn um Geld für die Flugblätter zu bitten.

An den Aktivitäten der Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ hatte aber Inge Scholl keinen Anteil; sie „ahnte nur etwas“, wie sie im Nachhinein meinte. Erst durch die Verhaftung der Geschwister Hans und Sophie erfuhr die Familie, dass die Flugblätter von den beiden und ihren Freunden stammten. 1993 bekannte Inge: „Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich versucht sie davon abzuhalten.“ Nicht deswegen, weil sie anderer Meinung gewesen sei, sondern aus nackter Angst „um die beiden“. Und sie fügte hinzu: „Ich glaube, die Angst habe ich auch heute noch.“
Die starke emotionale Bindung an die Familie und das Gedenken an ihre ermordeten Geschwister motivierten Inge Scholl gleich nach Kriegsende aufzuschreiben, was sie vom Leben und dem Schicksal ihrer Geschwister wusste, wobei sie auch Zeitzeugen befragen konnte. 1952 – als „Widerstand“ in der Bundesrepublik noch weitgehend mit dem 20. Juli 1944 gleichgesetzt wurde — veröffentlichte sie „Die weiße Rose”, einen „biographischen Bericht”, wie sie ihn nennt.
Das Buch wurde ein Bestseller; schon 1977 lag die Auflagenhöhe bei 400 000 Exemplaren und 2003 erschien es in der 10. Auflage. Inge Scholl hat den Inhalt des Buches über die Jahre kontinuierlich erweitert und inzwischen einen ausführlichen Dokumentenanhang angefügt. Bis in die Gegenwart wird das Bild der „Weißen Rose“ in der Öffentlichkeit von Inge Scholls Bericht geprägt, wenn auch Historiker mit wissenschaftlicher Genauigkeit manche Ergänzungen und Verbesserungen anzubringen hätten.
Die richtigen Schlussfolgerungen aus der Erinnerung an die NS-Zeit zu ziehen, das war das Lebensthema von Inge Scholl. Sie selbst war – wie ihre Eltern und ihre Schwester Elisabeth – seit dem Februar 1943 im Gefängnis inhaftiert und nur wegen einer Diphterieerkrankung wurde sie vor dem KZ bewahrt. 50 Jahre später, 1993, hat Inge Aicher- Scholl – nach dem Unfalltod ihres Mannes Otl Aicher – in dem von ihr herausgegebenen Buch „Sippenhaft. Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl“ die Gefängniszeit anhand der Kassiber, die zwischen den Mitgliedern der Familie zirkulierten, noch einmal nachvollzogen.