Inge Scholl – eine demokratische Patriotin
Giselher Technau
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Es war bestimmt nicht leicht für sie, auch familiäre Details dem kritischen Blick der Öffentlichkeit auszusetzen und im gleichen Zusammenhang sehr persönliche Briefe ihres späteren Mannes, Otl Aicher, und des Freundes von Sophie Scholl, Fritz Hartnagel, wiederzugeben.
„Überhaupt haben meine Geschwister auch mein Leben sehr stark bestimmt, aber nicht in ewiger Wehmut und Trauer, sondern dass man sagt, man muss den Weg weiter gehen.“ So begann Inge Scholl bereits seit 1946 in Ulm „mit Hilfe der Bevölkerung […] eine Volkshochschule aufzubauen, deren Leitung mir übertragen wurde“. Besonders die jungen Menschen sollten mit den Veranstaltungen der Volkshochschule angesprochen werden: „Ich kenne die Nöte und den Hunger einer oft missverstandenen Jugend, die in dieser Welt wieder eine Heimat sucht und sie wieder menschlich eingerichtet sehen möchte.“ Die „vh ulm“ nahm bundesweit eine Vorreiterrolle ein, weil erstmals gesellschaftliche, kulturelle und literarische Themen neben die üblichen berufskundlichen Inhalte traten.
Folgerichtig nahm auch der Programmentwurf für die 1950 geplante „Geschwister-Scholl-Hochschule“ Bezug auf den Widerstand der „Weißen Rose“: „Es gilt eine demokratische Elite zu erziehen, die ein Gegengewicht gegen die aufkommenden nationalistischen und reaktionären Kräfte bildet. Der Widerstand, wie er zum Beispiel von den Geschwistern Scholl und ihren Freunden geleistet wurde, muss als Impuls für die Eroberung des Friedens fortgeführt werden.“ 1953 gelang es Inge Scholl mit Hilfe amerikanischer Stiftungen, aber auch der deutschen Wirtschaft die Mittel für die Errichtung der „Hochschule für Gestaltung“ aufzubringen, die von der „Geschwister-Scholl-Stiftung“ getragen wurde, sodass sie staatlich unabhängig bleiben konnte. Die „Hochschule für Gestaltung“ war neben dem „Bauhaus“ Deutschlands bekannteste Designschule. Die zu entwerfenden Produkte sollten möglichst langlebig und funktional sein, damit sie gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch vertretbar sind. Die Hochschule, die bis 1968 bestand, repräsentierte mit ihren insgesamt 637 Studenten, darunter 278 ausländische aus 45 Staaten, in nuce das geläuterte, weltoffene Deutschland.
Eine sinnvolle demokratische Aufklärung beinhaltete für Inge Scholl auch, öffentlich Stellung zu beziehen und, wenn notwendig, politische Entwicklungen in der Bundesrepublik zu kommentieren. Im Bundestagswahljahr 1961 wandte sie sich gemeinsam mit Otl Aicher gegen das Denken in den Kategorien des Kalten Krieges und die Verherrlichung des Wirtschaftswunders: „Die Herausforderung […] heißt nicht: mehr Waffen und nicht einmal: mehr Wohlstand. Sie heißt zuerst: soziale Aktivität auf allen Gebieten, die eine humane technische Zivilisation fördern. Sie verlangt Initiative und Bereitschaft zum Risiko.“