Der Beginn der Weiße-Rose-Erinnerung
1964 lädt Pfarrer Rudolf Schütt Robert Scholl zu einer Veranstaltung nach Crailsheim ein / Anlass ist Gedenken an Stauffenberg-Attentat.
Autor: Folker Förtsch
Im Bewusstsein vieler Zeitgenossen ist das besondere Crailsheimer Gedenken an den Widerstand der Studentengruppe „Weiße Rose“ um den in Ingersheim geborenen Hans Scholl eine Erscheinung der letzten Jahre. Das ist nicht ganz richtig: Bereits vor fast fünf Jahrzehnten hob man von offizieller Seite die besondere Beziehung der Stadt zu Hans Scholl hervor.
Höhepunkt in einer ganzen Reihe von Veranstaltungen war der Auftritt des Vaters der Geschwister Scholl, Robert Scholl, am 20. Juli 1964 bei einer Gedenkveranstaltung im Ratssaal.
Die Einladung Robert Scholls zur Crailsheimer Gedenkfeier am 20. Jahrestag des Stauffenberg-Attentats auf Hitler ging auf eine Initiative des Kreisjugendrings zurück. Unter dem Vorsitz des vor kurzem verstorbenen Pfarrers Rudolf Schütt, Geistlicher an der Christuskirche auf dem Sauerbrunnen, kümmerte sich der Kreisjugendring in diesen Jahren um die Gestaltung würdiger Feiern zum 17. Juni (Volksaufstand in der DDR), 20. Juli (Attentat auf Hitler) und zur „Woche der Brüderlichkeit“.

Schütt, der von 1965 bis 1977 zunächst für die CDU und dann für die Freie Wählervereinigung auch im Crailsheimer Gemeinderat saß, hatte den Kontakt zu Robert Scholl hergestellt.
In Crailsheim war man erst ein Jahr zuvor, 1963, auf die besondere Beziehung der Stadt zu Hans Scholl aufmerksam geworden.
Nachforschungen in den Standes-amtsbüchern anlässlich der bundesweiten Gedenkfeiern zum 20. Jahrestag der Hinrichtung der Geschwister Scholl hatten die Ingersheimer Abstammung Hans Scholls zu Tage gefördert.
Diese Entdeckung führte im Gemeinderat zu einer Aussprache über eine angemessene Ehrung Hans Scholls in Crailsheim.
In großer Einmütigkeit unterstützten die Wortführer aller Fraktionen entsprechende Schritte. Ergebnis war unter anderem die Benennung der Ingersheimer Schule nach den Geschwistern Scholl mit Gemeinderats-Beschluss vom 23. Januar 1964.
Höhepunkt der damaligen Crailsheimer Bemühungen um ein angemessenes Gedenken für die Geschwister Scholl war jedoch die Veranstaltung mit Robert Scholl. Für Scholl, Jahrgang 1891, war es ein Wiedersehen mit Crailsheim nach mehr als 44 Jahren. Von 1917 bis Anfang 1920 war er Schultheiß in der Nachbargemeinde Ingersheim-Altenmünster gewesen. Hier kamen die beiden ältesten seiner insgesamt sechs Kinder zur Welt: am 11. August 1917 Tochter Inge und am 22. September 1918 Sohn Hans. 1920 verließ Scholl Ingersheim und wechselte als gewählter Stadtschultheiß nach Forchtenberg.

Dem nationalsozialistischen Regime stand Robert Scholl von Beginn an ablehnend gegenüber, ohne Zweifel eine der Wurzeln, aus dem sich auch der spätere aktive Widerstand zweier seiner Kinder speiste. Vater Scholl selbst saß mehr als eineinhalb Jahre in Nazi-Gefängnissen ein.
Obwohl sich Robert Scholl, der mit seiner zweiten Frau nach Crailsheim gekommen war, aus gesundheitlichen Gründen auf eine kurze Ansprache beschränkte, und das Hauptreferat des Abends von Oberstudienrat Gerhard Binder aus Ulm, einem Freund der Familie Stauffenberg, gehalten wurde, standen dennoch seine Worte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Zunächst schilderte er das Wesen und den Charakter seiner Kinder Hans und Sophie, um dann auf den Widerstand der Studenten der „Weißen Rose“ einzugehen: Dieser, so Robert Scholl, sei nicht politisch oder gar parteipolitisch ausgerichtet gewesen. „Literatur, Kunst, Philosophie gaben ihnen genügend Inhalt“. Der Beweggrund seiner Kinder sei es gewesen, den Teufelskreis des Schweigens zu durchbrechen, dem „Beben des Herzens über den Unmenschlichkeiten“ Luft zu verschaffen. Sie vertrauten auf „die Kraft der Wahrheit“ und wollten „ein Zeichen geben, dass nicht alle Deutschen zur Hammelherde Hitlers gehörten“.
„Sie waren nicht blind gegen die Wirklichkeit, die mit so vielen Gefahren den kleinsten Schimmer der Wahrheit bedrohte, aber es fehlte ihnen die Feigheit, mit der viele ihr Gewissen überdeckten“.
Die beeindruckenden Initiativen des Jahres 1964, angestoßen unter anderem von Pfarrer Schütt, fanden zunächst keine Fortsetzung.
In den folgenden Jahren war von der engen Verbindung Crailsheims zur „Weißen Rose“ im öffentlichen Leben der Stadt kaum mehr etwas zu merken.
Erst seit etwa zwei Jahrzehnten ist das Gedenken an den Widerstand der Geschwister Scholl zu einem festen und kontinuierlich gepflegten Bestandteil des Crailsheimer Selbstverständnisses geworden.
(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Crailsheimer Stadtblatts)